Fritz Pohlner1998:
Ein heute Siebenundsiebzigjähriger erinnert sieh an das Musikleben der Dreißigerjahre in Brünn

Es sind dies sehr persönliche Erinnerungen, subjektive Eindrücke und individuelle Beobachtungen, die ich hier aufzeichne: Sie spiegeln nur lückenhaft die musikalischen Ereignisse und könnten aus anderer Sicht ergänzt und vervollständigt werden.

Als zehnjähriger Junge (5. Klasse Volksschule) hatte ich das große Glück, zu einer hervorragenden Klavierpädagogin und Meisterin ihres Faches, Frau Prof: Marianne Ertl, in die „Lehre” zu kommen; zunächst privat, nach einem Jahr als Schüler der Brunner Musikschule, die sich damals in der Basteigasse befand: Vorher führte mich einer ihrer besten Schüler, Franz Ehrenberger, in die Grundlagen des Klavierspiels ein. Bei Frau Ertl mußte ich täglich mindestens eine Stunde üben. Ich tat es gern - cum grano salis - und erreichte dank ihrer zwar anspruchsvollen, dabei aber gütigen und humorvollen Anleitung, schnelle Fortschritte: Bereits im ersten Unterrichtsjahr durfte ich mit den f-Moll-Variationen von Haydn an einem Konzert, das sie mit ihren Schülern gab, mitwirkem (Weitere Mitwirkende waren u.a.: Hedi Friedrich, Rolf Tallner, Karl Landrock, Helene Suwald, Franz Ehrenberger.)

Frau Ertl führte und förderte mich bis zur Matura im Jahre 1939 und brachte mich so weit, daß ich im Herbst dieses Jahres bei der Aufnahmeprüfung an der Wiener Musikakademie in die Meisterklasse Friedrich Wührer aufgenommen wurde: Ich werde stets mit großer Dankbarkeit an Marianne Ertl zurückdenken, zumal sie ihr überragendes Künstlertum öfters - doch besonders eindrucksvoll in zwei Konzerten im Deutschen Haus- unter Beweis stellte: Einmal spielte sie die äußerst schwierigen Bach-Variationen von Max Reger; das andere Mal das b- Moll-Klavierkonzert von Tschaikowski, begleitet von den Brünner Philharmonikern und der Leitung von Josef Heidegger.

Doch auch an eine weitere Veranstaltung, an der sie mitwirkte, kann ich mich gut erinnern, an das Konzert für vier Klaviere, das J.S. Bach nach der Vorlage von Vivaldi (dort für vier Violinen) geschrieben hat: Ich meine, die weiteren Solisten waren die Herren Kvapil, Kundera (vom tschechischen Konservatorium) und Franz Zubal.

Die Qrchesterkonzerte der Brünner Philharmoniker fanden meistens im Deutschen Haus statt und wurden in der Regel vom Direktor der Musikschule, Herrn Josef Heidegger, dirigiert; besonders eindrucksvoll die Darbietungen von Bruckner- und Mahler-Sinfonien. Doch auch sehr schöne Orgelkonzerte, u.a. von Frau Else Neumann, wurden daselbst veranstaltet. Etwas ganz einmaliges zu dieser Zeit; ein Gitarrenabend mit A. Segovia, dem großen Virtuosen aus Spanien: Gitarre solo!

Außer dem kleinen und großen Saal im Deutschen Haus gab es noch zwei weitere Säle deren Namen mir entfallen sind, in denen Konzerte mit international bedeutenden Künstlern stattfanden, ein etwas kleinerer auf dem Lažanskyplatz, gegenüber der Statthalterei (DQPZ), und ein großer, langgestreckter Saal in der Gegend der oberen Eichhornstraße (Kaunitzstraße?). Ich hörte damals den Beethoven-Interpreten Frederic Lamond, einen der letzten Liszt-Schüler, Moritz Rosenthal, aber auch jüngere Pianistinnen und Pianisten wie Poldi Mildner, Adrian A(E)schbaeher, Walter Gieseking (u.a. die Beethoven-Sonate op. 101), Vladimir Horowitz und Herrn Brailowski; fulminant auch zwei Konzerte von Rudolf Firkušny.Außer Pianisten kamen auch große Geigen- und Cello-Virtuosen nach Brünn; Bronislaw Hubermann, Nathan Milstein, Isaac Stern und Vaša Příhoda. Einen besonderen Eindruck hinterließen bei mir Georg Kulenkampff (Vater von Hans- Joachim K.), von dem ich zum erstenmal das Brahms Violinkonzert hörte, und Emanuel Feuermann, mit dem hinreißenden Dvořak-Cello-Konzert. Viele bedeutende Werke der Musikliteratur lernte ich damals kennen. Tiefbewegt, ja geradezu erschüttert war ich von den beiden großen Bach-Passionen (nach Matthäus und Johannes) „Ach Golgotha, unsel’ges Golgotha”.

Nun zurück zur Musikschule. Nicht nur guten Instrumentalunterricht konnte man da bekommen, sondern auch Gruppenunterricht in den sogenannten Nebenfächern. Und da erinnere ich mich mit Schmunzeln an den Unterricht in Harmonielehre bei Herrn Österreicher (vom Typ her ein zweiter Franz Schubert), gutmütig und sehr nachsichtig. Da ich nicht von Anfang an dabei war, begriff ich nichts von dem, was Herr Österreicher an der Tafel vor- und ausführte. Mit anderen Teilnehmern machte ich auch viel dummes Zeug während des Unterrichts. Nur eines lernte ich; Notensehreiben. Am Ende des Schuljahres erzählte ich bei irgendeiner Gelegenheit im Direktionszimmer Herrn Heidegger von diesen vergeblichen Bemühungen. Undwas geschah? Herr Heidegger gab mir ein Privatissimum und führte mich in die Grundlagen der Harmonielehre ein, Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. In etwa drei Stunden habe ich den Stoff des ganzen Jahres nachgeholt. (Damals ahnte ich nicht, daß dies einmal ein Schwerpunkt meines Berufslebens werden sollte.) Übrigens habe ich der Musik auch andere wertvolle Erfahrungen zu verdanken, z.B. einen hervorragenden Violin-Unterricht bei Frau Marie Appelt. Ich selbst wurde zwar kein Meister auf diesem Instrument, erinnere mich aber an sehr gute Appeltschüler, wie Karl Brix, Otakar Halva und Emil Hrnčíř. Viele ihrer Schüler habe ich auf dem Klavier begleitet. Dann gab es einen Kammermusikklasse bei Herrn Kiowsky, an die ich gerne zurückdenke. Wie hat er uns manchmal “ins Waser geworfen”, indem er uns anspruchsvolle Werke vom Blatt spielen ließ. Er sebst war ein so versierter Cellist (Solocellist an der Oper und bei den Philharmonikern), daß er einmal in Ermangelung eines zweiten Geigers auf seinem Cello die zweite Violinstimme in einem Streichquartett spielte. Bei ihm habe ich eine Menge Kammermusikliteratur kennen gelernt.

In den Jahren zwischen 1931 und 1939 wirkte ich öfters bei Schülervorspielen mit, die entweder im Musikschulsaal, oder (meistens als Jahresabschlußkonzerte) im Deutschen Haus stattfanden. An eines erinnere ich mich besonders gut, weil ich dabei sicherlich meinen sonst sehr lieben, etwas älteren Mitschüler Fritz Mareczek verprellt habe. Es ging um die Leitung des Schumann-Klavierkonzertes. Ich fühlte mich selbst mit meinem Solopart nicht sicher genug und wünschte statt seiner Herrn Heidegger als Dirigent. Doch sonst hatte ich ein sehr gutes Verhältnis zu Fritz Mareczek, und nach dem Kriege suchte ich ihn im Süddeutschen Rundfunk auf, als er schon ein arrivierter Dirigent und Komponist war.

Noch eine Stätte lebhafter Erinnerungen möchte ich erwähnen: die Brünner deutsche Oper. Was habe ich da nicht alles erlebt! Mozart-, Lortzing- und vor allem Wagneropern, meistens vom Stehplatz aus. Im Repertoire waren alle gängigen Opern, die auch heute noch auf den Spielplänen der großen Opernhäuser zu finden sind. Aber auch an zwei Opern kann ich mich erinnern, die heute kaum noch gespielt werden: „Tiefland” von d’ Albert und der „Evangelimann” von Kienzl. Es waren sehr gute Aufführungen mit beachtlichen Darstellern. Leider sind mir ihre Namen größtenteils entfallen. Auch die leichtere Muse wurde gepflegt und da erinnere ich mich an einen Schauspieler sehr gut: Erich Elstner (Vater von Frank Elstner). Wenn er mitwirkte, war der Erfolg sozusagen schon vorprogrammiert. (Sein Auftritt als „Frosch” in der Fledermaus - unübertroffen!) Auch die Namen der Dirigenten sind mir entfallen. Nur einen Mann im Orchester habe ich noch leibhaftig vor Augen: Herrn Domes am Kontrabaß.

Zwischendurch möchte ich noch erwähnen, daß ich als Schüler des deutschen Masaryk-Gymnasiums einem Lehrer viel zu verdanken habe, Prof. Dr. Josef Peschek. Unter seiner Leitung gab es nicht nur beachtliche Schülerkonzerte, bei denen ich mit Vergnügen den Kontrabaß strich, sondern auch schöne, kleine Theateraufführungen. Peschek schrieb damals für die Gymnasiasten ein bezauberndes Stück „Mozarts siebenter Geburtstag”. Ich übernahm dabei hinter den Kulissen den Cembalopart. Und einmal führte er sogar mit Schülern die Haydn- Oper „Der Apotheker” auf. Was haben wir gelacht über den Hauptdarsteller Klobučar, und wie schön sang mein Freund Fritz Lidařik die Partie des Mengone! Klobučar verstarb kurze Zeit danach, an seinem Grab sang der Schulchor Mendelssohns „Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden.” Oh war das traurig! Auch Fritz Lidařik lebte nicht lange. Er ist im Krieg als Bordfunker gefallen.

Am deutschen Realgymnasium fanden in den Dreißigerjahren auch Schülerkonzerte statt, ich half bei einem als Kontrabassist aus. Den Taktstock schwang Professor Regula.

Zum Schluß möchte ich noch eine Gruppe von Musikanten nennen, an die ich sehr gerne zurückdenke: Die Wandervögel, später die Laienspielschar und das Jugendorchester. Wie lustig und schwungvoll gings da zu! Zwei Singleiter habe ich in besonders guter Erinnerung: Rolf Kosetschek und Erich Pillwein! Die konnten Lieder und Kanons vermitteln und erarbeiten! Sagenhaft! Von ihnen habe ich mir für meinen späteren Beruf in der Lehrerbildung viel abgeguckt. Noch heute herzlichen Dank!

Damit will ich meinen Bericht über das Musikleben der Dreißigerjahre in Brünn schließen und sagen: Es war eine schöne, erfüllte, eine – nach Lortzing – köstliche Zeit.

Fritz Pohlner (Polatschek), * 26.08.1920 in Brünn, † 11.02.2000 in Glashütte/Ts.
Pianist, Musikpädagoge.(Mehr im „Lexikon Bedeutender Brünner Deutscher“.)

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