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Unerlaubte Gegenaggression

Die Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa als naturrechtliches und als pragmatisches Problem

von Prof. Dr. Peter Koslowski (in Auszügen)

(Quelle: Frankfurt Allgemeine Zeitung vom 11. 09. 2000)

 

Mit dem Aufgreifen eines Themas wie der Vertreibung der Deutschen aus Ostmitteleuropa ist heute kaum etwas zu gewinnen. Europa, aber auch Deutschland und Österreich selbst gehen meist mit einem Achselzucken über die Tatsache der totalen Vertreibung von 10 Millionen Menschen und die entschädigungslose Enteignung all ihres Eigentums hinweg. (...)

Die Begründung, die für diese Duldung von Unrecht an den deutschen Vertriebenen gewöhnlich gegeben wird, ist die, daß die Vertreibung der Deutschen die gerechte Strafe für die Gewalttaten Nazideutschlands gewesen und daher hinzunehmen sei. Es wird ein Ursache-Wirkungs-Verhältnis zwischen dem von den Deutschen begonnenen Angriffskrieg und der sozusagen verdienten Strafe ihrer Vertreibung aus Ostmitteleuropa hergestellt und dieses historische Ursache-Wirkungs-Verhältnis zugleich als Verhältnis der Begründung und Rechtfertigung angesehen.

Mit dieser Rechtfertigungsfigur der Vertreibung als Wirkung des deutschen Kriegsangriffes ist eine zweite Argumentationsfigur verbunden.... (...)

Dieses zweite Argument ist für die Rechtfertigung der Vertreibung insofern notwendig, als bekannt ist, daß das Begehen einer Untat nicht das Begehen einer zweiten Untat als Antwort auf die erste Untat rechtfertigt. Die gesamte Idee des Rechts gründet vielmehr in der Überzeugung, daß eine Untat nur durch das Recht und nicht durch eine zweite Untat beantwortet und bestraft werden kann. Die Beantwortung einer Untat durch eine andere Untat ist das Prinzip der Rache, das in die Ewigkeit des Rächens in Kettenreaktion führt. Die Vertreibung der aus Ostmitteleuropa als Antwort auf den Angriff Deutschlands auf Ostmitteleuropa und die Besetzung etwa der Tschechoslowakei kann nur als Rache gedeutet, nicht aber als Rechtshandlung gerechtfertigt werden - es sei denn, es kommt die zweite Argumentationsfigur hinzu: das Argument, daß die Verbrechen der Deutschen so ungeheuerlich gewesen seien, daß die Strafe der Vertreibung durchaus nicht unverhältnismäßig, sondern vielmehr gerecht und nicht bloße Rache gewesen sei. Aber selbst wenn man die These akzeptierte, daß die Verbrechen, die Deutsche begangen haben, ein Ausnahme-Verbrechen darstellten, könnte dadurch keine Ausnahme-Vergeltung gerechtfertigt sein, weil man sich damit auf dieselbe Stufe mit der ursprünglichen Tat stellen würde.

Niemandem dürfte es normalerweise einleuchten, daß die Besetzung eines Landes durch ein anderes Land die besetzte Nation später berechtigt, alle Bürger des eigenen Landes, die zur Nation des früheren Besetzerlandes gehört haben, aus dem Land zu jagen und ihres Eigentums zu berauben. Die Tschechische Republik ist jedoch der Meinung, daß aufgrund der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Eigentumsrechte der ehemaligen tschechischen Bürger deutscher Abstammung verwirkt worden seien und daß dies auch durch die deutsch-tschechische Erklärung von 1997 bestätigt worden sei, die diese Eigentumsansprüche für erledigt und null und nichtig erklärt habe. Die deutsche Regierung unter Bundeskanzler Kohl war dagegen der Meinung, daß die Eigentumsrechte fortbestehen.

 

Folgewirkung des Kriegsbeginns durch Deutschland

 

Einen Ansatzpunkt für das Verständnis der tschechischen Einschätzung der Rechtslage in der Vertreibungs- und Eigentumsfrage bietet der Motivenbericht des tschechischen Ministerpräsidenten von 1997, Dr.Václav Klaus, an das tschechische Parlament. Klaus rechtfertigte die tschechische Unterzeichnung der deutsch-tschechischen Erklärung damit, daß die deutsche Regierung mit der Erklärung anerkannt habe, daß zwischen den Kriegsereignissen und der Aussiedlung der Einwohner Tschechiens deutscher Abstammung nach dem Krieg ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Die deutsche Regierung hat es leider versäumt, dieser Zusatzerklärung entgegenzutreten, so daß der Eindruck entstehen konnte, sie schließe sich der Deutung des Motivenberichts an.

In der Deutung des Motivenberichts wird die Vertreibung und Zwangsenteignung als Kriegsfolge interpretiert, die als solche hinzunehmen ist, zu den sogenannten "Ergebnissen des Zweiten Weltkriegs" gehört. Auch die deutsche Regierung neigt dazu, die Vertreibung von Deutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs aus Tschechien, Polen und Rußland als dessen Folgewirkung anzusehen, die hinzunehmen und nicht weiter zu hinterfragen ist - um des Friedens in Europa willen. Dadurch ist jedoch die Gefahr gegeben, daß bei einer solchen Betrachtung die Rechte der Betroffenen, aber auch die Zivilrechtsordnung in Europa auf der Strecke bleiben. Man versucht, einen Versöhnungsprozeß einzuleiten und gleichzeitig fundamentale Normen des Naturrechts außer Kraft zu setzen. Ein echter Versöhnungsprozeß kann jedoch nur gelingen, wenn man an den Normen des Naturrechts festhält und das Recht nicht massiv politischen Nützlichkeitserwägungen unterwirft.

Das Naturrecht verbietet die erzwungene und entschädigungslose Enteignung und erst recht die Vertreibung von Individuen oder Gruppen. Es verbietet sowohl die Enteignung innerhalb eines Landes durch einen Souverän als auch die Enteignung eines anderen Landes durch Siegermächte als Folge eines Krieges. Der Sieger kann nur Reparationen, nicht aber entschädigungslose Enteignungen oder "Bevölkerungstransfer" verlangen. Weder ein Monarch noch die Volkssouveränität hat das Recht, rechtmäßigen Eigentümern durch politischen Beschluß ihr Eigentum wegzunehmen und sie aus ihrem angestammten Land zu vertreiben. Dies gilt auch für die Eigentumsrechte von Verbrechern und insbesondere für die Eigentumsrechte von Kindern von Verbrechern. Auch das Vermögen von Verbrechern kann nur im Rahmen des Strafverfahrens und nur nach dem Gesetz, nicht aber als Rache eingezogen werden. (....)

Die Tatsache, daß das Deutsche Reich den Zweiten Weltkrieg begonnen hat, kann die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei und dem heutigen Polen nach Kriegsende nicht rechtfertigen. Zunächst hat ja die Vertreibung alle getroffen, gleichgültig, ob sie für oder gegen den Krieg waren. Aber selbst wenn man - noch einmal im Gedankenexperiment - annehmen wollte, daß alle Bewohner des Sudetenlandes und der deutschen Ostgebiete den Zweiten Weltkrieg gewollt hätten, würde dies ihre Vertreibung nach dem Krieg nicht rechtfertigen und nichts an dem Unrechtscharakter der Vertreibung und Enteignung ändern, weil die Reaktion der Vertreibung der deutschen Bürger in keinem angemessenen Verhältnis zur Handlung der Eröffnung des Krieges durch das Deutsche Reich stand. (....)

Daß der polnische und der tschechische Staat es wagen konnten, die Bevölkerung von ihren neugewonnenen Gebieten zu vertreiben und zu enteignen, ist nur durch zwei Phänomene zu erklären, durch die Affekthandlung der spontanen Rache an den Kriegsbeginnern und Besatzern und durch die Fortschreibung dieser quasi im Affekt begangenen Vertreibung und Enteignung durch den darauffolgenden ,,Nationalkommunismus", der die Möglichkeit schuf, die Enteignung auf eine dauerhafte Basis zu stellen, weil ja alle Privateigentümer enteignet wurden - allerdings wurden nicht alle Enteigneten auch wieder am Kollektivvermögen des polnischen und des tschechoslowakischen Staates beteiligt, sondern die ehemaligen deutschen Eigentümer aufgrund ihrer Nationalität vom Kollektiveigentum der "Volksrepubliken" ausgeschlossen. (...)

 

Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit muß beachtet werden

 

Das Naturrecht versucht auch dort noch Pfade des Rechts zu suchen, wo sich die Menschen tief in Unrecht verstrickt haben. (...)

So können etwa Deutschland als Aggressor des Zweiten Weltkriegs deshalb nicht für völlig rechtlos und die östlichen Nachbarn Deutschlands als Erleidende dieser Aggression für stets im Recht seiend erklärt werden. Vielmehr muß gefragt werden, welche Rechte die deutsche Bevölkerung trotz des Unrechts ihrer politischen Führung auch am Ende des Zweiten Weltkriegs noch besessen haben muß.
Eine Richtschnur zur Beurteilung dieser Frage kann die naturrechtliche Norm der Handlung mit doppelter Wirkung geben. Nach dem Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung muß derjenige, der sich gegen einen Aggressor verteidigt, das Prinzip der Verhältnismäßigkeit der Mittel bei der Verteidigung beachten. Es gibt kein Recht, auf eine Aggression mit einer Gegenaggression zu antworten, die in keinem Verhältnis zum Akt des ursprünglichen Aggressors steht. (...)

Wendet man dieses Prinzip der Handlung mit doppelter Wirkung auf die Verteidigung in einem Krieg an, so wird erkennbar, daß keine unbeschränkte Vergeltung erlaubt ist. Die Vertreibung und Enteignung der Deutschen stellt daher trotz der Verbrechen der nationalsozialistischen Politik eine unerlaubte und unverhältnismäßige, durch das Naturrecht nicht gedeckte Gegenaggression und damit ein Unrecht dar. Man darf auf die Besetzung des eigenen Landes als Akt der Aggression nicht mit der unbeschränkten Gegenreaktion und Gegenaggression der totalen Vertreibung der gegnerischen Bevölkerung antworten. Die Länder Rußland, Polen und Tschechoslowakei waren nicht berechtigt, die Aggression Deutschlands mit der Kollektivvertreibung der Bevölkerung ganzer Landstriche zu erwidern. Naturrechtlich und völkerrechtlich waren Reparationen, Besetzungen, Konfiskationen, ja Annexionen, nicht aber die totale Vertreibung und entschädigungslose Enteignung der Bevölkerung des Kriegsgegners erlaubt. (...)

Der Status quo ante ist nicht restituierbar, weil sich inzwischen das Heimatrecht der nach dem Krieg dort lebenden Menschen herausgebildet hat. Restituierbar sind nur bestimmte Eigentumsrechte. Der Verlust der Heimat muß als Kriegsfolgewirkung hingenommen werden, die dauerhafte Mißachtung der Persönlichkeits- und Eigentumsrechte darf dagegen nicht akzeptiert werden. Die Mißachtung des Eigentumsrechtes deutscher Bürger ist, wenn sie eine Kriegsfolgewirkung ist, eine solche, die wiedergutmachungspflichtig ist, also rückgängig gemacht werden muß. (...)

Ich habe auf dem Rechtsstandpunkt nicht deshalb beharrt, weil ich glaube, daß eine vollständige Restitution deutschen Eigentums in diesen Ländern möglich ist. Die Erfahrungen, die ich nicht zuletzt durch meine Frau, eine Tschechin, und durch unseren Sohn, der die deutsche und die tschechische Staatsbürgerschaft besitzt, gemacht habe, haben mich davon überzeugt, daß das Pochen auf die Wiederherstellung eines Status quo ante nach 55 Jahren mehr Schaden als Nutzen stiftet. Es scheint mir aber möglich und billig, zu fordern, daß Polen, Tschechien und Rußland Gesten des Eingeständnisses von getanem Unrecht machen. (...)

Wenn man von Deutschland und Österreich verlangt, einen Schlußstrich unter die Eigentumsrechte der Vertriebenen zu ziehen, was kaum zu vermeiden ist, muß man auch bereit sein, einen Schlußstrich unter die zivilrechtlichen Ansprüche der östlichen Nachbarn gegenüber Deutschland und Österreich zu ziehen. (...)

Wenn die Entschädigungsklagen der Zwangsarbeiter in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges zivilrechtliche Klagen sind, müssen die zivilrechtlichen Ansprüche deutscher Bürger gegen die osteuropäischen Nachbarn Deutschlands zumindest mit in Betracht gezogen werden. Es ist dies bei zivilrechtlichen Klagen üblich. Eine Aufrechnung dieser deutschen addierten Ansprüche gegen die addierten Ansprüche polnischer und tschechischer Zwangsarbeiter würde letztere auf Null setzen, da die Vermögensverluste aller deutschen Bürger die Ansprüche aller polnischen und tschechischen Zwangsarbeiter überschreiten. (...)

Deutschland sowie Österreich und ihre östlichen Nachbarn - und nicht nur Deutschland und Österreich allein - haben um Vergebung zu bitten. Wenn dies jedoch so ist, sollte sowohl von polnischer und tschechischer als auch von amerikanischer Seite darauf verzichtet werden, weiterhin im Verhältnis zu Deutschland an einem Gegensatz von Moral und Recht festzuhalten. Dieser falsche Gegensatz von Moral und Recht der Deutschland gegenüber unbegrenzte Schuld mit Folgerungen daraus geltend macht, die eigenen Rechtsbrüche in der Vertreibung und Enteignung jedoch als moralische und rechtliche Kleinigkeit darstellt, wird der Einheit des Rechts und der Moral nicht gerecht. (...)

Das Verhältnis zu den östlichen Nachbarn ist für Deutschland von größter Bedeutung, weil sich in Ostmitteleuropa ein Zusammenwirken von Slawen und Deutschen vollzogen hatte, das für beide Seiten große Konsequenzen hatte. Daß dieses Zusammenleben auch große Belastungen mit sich gebracht hat, wie etwa die von Preußen und Österreich mitgetragene Teilung der polnischen Nation - ein großes Unrecht der Geschichte - oder die politische und kulturelle Hegemonie Österreichs über Tschechien, ist unübersehbar. Daß die "Kohabitation" zwischen Slawen und Deutschen jedoch auch historisch in der Kultur Ostmitteleuropas fruchtbar wurde, ist ebensowenig zu übersehen.

Wenn die Versöhnung zwischen Polen und Deutschen und zwischen Tschechen und Deutschen über "Versöhnungskitsch" hinauskommen soll, muß der Standpunkt des Rechts auch für Deutschland anerkannt werden, auch wenn eine Restitution alter Rechte nicht möglich ist. Ohne die Anerkennung des Rechts, des für alle Menschen gültigen Naturrechts, kann es jedoch keine wirkliche Versöhnung geben, weil ich mich mit dem anderen nur versöhnen kann, wenn ich auch von ihm als Rechtsperson und in meinem Recht anerkannt werde.

 

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Der Verfasser ist Direktor des Forschungsinstuts für Philosophie Hannover und lehrt an der Universität Witten-Herdecke.


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